Lernen von Juli Zeh

 

 

Steffen ist 42 Jahre alt und führt einen kleinen Weinladen. Er liebt seinen Beruf und er liebt seine Freundin Lena, mit der er seit 4 Monaten zusammenlebt. Sein Leben könnte harmonisch sein, wenn seine Freundin nicht eine so besessene Pferdenärrin wäre: „Oft habe ich das Gefühl, sie liebt ihr Pferd mehr als mich. Ihre Augen leuchten, wenn sie von Don Fuego spricht. Sonntags schlüpft sie in aller früh aus dem Haus und lässt mich alleine zurück. Zum Geburtstag wünscht sie sich kratzige Pferdedecken. Ständig erzählt sie mir von Pferdekrankheiten, um die sie sich kümmern muss. Aber wenn ich krank bin, stellt sie mir einen Tee hin und geht zu Don Fuego in den Stall, weil er ausgeritten werden muss.“ Steffen senkt den Kopf. „Es ist mir unendlich peinlich zu sagen, aber ich bin eifersüchtig … auf ein Pferd!“

 

Was kann Steffen tun? Welche innere Haltung hilft ihm?

 

Steffen liebt Lena und will nicht ohne sie leben, aber Lena kann nicht ohne ihr Pferd leben. Die Autorin Juli Zeh beschreibt die perfekte Lösung für Steffens Problem. Da ich es unmöglich besser ausdrücken kann als die Autorin selber, zitiere ich heute wörtlich aus ihrem Roman „Unterleuten“:

 

„Ausgangspunkt war eine simple Erkenntnis: Einen Feind, den man nicht besiegen konnte, musste man lieben lernen. Das Konzept heißt distanzierte Anteilnahme und es bestand aus einem Set von klaren Verhaltensregeln. Zeige niemals Eifersucht, geschweige denn Ablehnung, Kritik oder auch nur Zweifel am Pferd. Mach dich aber auch nicht mit dem Pferd gemein. Versuch nicht, reiten zu lernen. Lass dich nicht zum Stallburschen erziehen. Beschränke deine Stallbesuche auf maximal vierzehntägige Frequenz. Reagiere gelassen, wenn man deinen Respekt vor einem 600 Kilo schweren Muskelpaket als Feigheit verspottet. Merke dir Grundbegriffe aus Reiterei und Pferdekunde und platziere sie maßvoll und beiläufig in euren Gesprächen. Hör zu, wenn dir die Rossfrau vom Pferd erzählt, auch wenn es eine Stunde dauert. Lobe die Fortschritte von Pferd und Rossfrau, auch wenn du nichts davon siehst. Komm nicht auf die Idee, dich an Stallfreundschaften der Rossfrau zu beteiligen; diese werden sich ohnehin über kurz oder lang in bösartige Intrigen auflösen. Beschwere dich nicht über den Geruch der Rossfrau und auch nicht über ihre Stiefel, die vor der Heizung trocknen. Schenke ihr zu jedem Geburtstag eine Regen-, Sommer-, Fliegen-, Thermo- oder Abschwitzdecke, ohne zu fragen, warum das Pferd mehr Jacken braucht als du. Dass der Reitsport schweineteuer und saugefährlich ist, weiß jeder. Es bringt nichts, das Offensichtliche zu wiederholen. Und zum Schluss: Nicht du bist verrückt, sondern die Rossfrau. Liebe sie trotzdem, es ist deine.“

 

 

Das ist sehr gut! Vielen Dank, Frau Zeh! Ich werde das Konzept der ‚Distanzierten Anteilnahme‘ fest in mein therapeutisches Repertoire einbauen.

Juli Zeh (2016) Unterleuten, Seite 137-138

 


 

Als Psychologin unterliege ich der absoluten Schweigepflicht. Alle Namen, Rahmenhandlungen und biographischen Details habe ich mir ausgedacht. Die Person, die ich hier beschreibe, gibt es nicht. Lediglich der psychologische Kerngedanke in jedem Beitrag ist real. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Pe.Rau (Donnerstag, 24 Mai 2018 20:46)

    Diese Strategie übernehme ich ab heute für meinen fußballvernarrten Freund - passend zur WM!